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Mittwoch:
Offenbarung 1,9-18
Jakob sieht im Traum die Pforte des Himmels, und wenn er sie nach dem Aufwachen auch magisch
deutet, als sei an dieser Stelle wirklich der Himmelseingang, so bleibt ihm doch die
prägende Gewissheit, Gott geschaut und seine Stimme gehört zu haben; was er da gesehen
und gehört hat, gibt seinem Glauben die entscheidende Richtung, seinem Leben die
Perspektive. Was Johannes auf Patmos erlebt, scheint kein Traum zu sein, sondern
eine Halluzination. Johannes folgert nicht daraus, dass auf Patmos der Himmelseingang
liegt, und ihm ist wohl auch nicht danach, die Insel zum heiligen Ort zu erklären
und wie Petrus auf dem Verklärungsberg eine Kirche darauf zu bauen, um den erhabenen
Augenblick in die Zeitlichkeit zu bannen. Patmos ist ein Straflager, Johannes ist
von der systematischen, äußerst brutalen Christenverfolgung des Kaisers Domitian
betroffen. Halluzinationen entstehen unter anderem durch Schlafentzug - wer weiß,
was ihm zugemutet wurde.
Das Phänomen der Halluzination ist definiert als eine Wahrnehmung, die für den,
der sie erlebt, reine Wirklichkeit ist, aber die Menschen in seiner Umgebung haben
sie nicht. Es ist ziemlich sicher, dass dies hier zutrifft. Des Weiteren sind
Halluzinationen keine Wahnvorstellungen, aber sie können Wahnvorstellungen zur
Folge haben. Das Verb zu „Wahn“ heißt „wähnen“. Damit meinen wir, das jemand
einer Wahrnehmung eine Bedeutung gibt, die nicht der Realität entspricht.
Wahnhaft ist zum Beispiel die Deutung eines paranoiden Psychotikers, in
schwarzen Autos mit getönten Scheiben säßen die Agenten, von denen er
verfolgt wird. Wahnhaft ist Jakobs Lokalisierung der Himmelspforte in
Bethel, wie auch der Hüttenbau des Petrus nach der Verklärungserfahrung.
Die Unterscheidung zwischen Halluzination und Wahn ist eminent wichtig, um Texten
wie diesem gerecht zu werden. Fehlgedeutet werden sie entweder durch die Folgerung,
das sei Wahn, oder durch die Folgerung, das sei empirische Realität (in Patmos ist
die Pforte des Himmels; diesen siebenarmigen Leuchter „gibt es“ wirklich; das
himmlische Jerusalem schwebt am Ende der Zeiten buchstäblich so vom Himmel
herab, wie Johannes es schaut usw.). Das erste ist die bibelkritizistische
Deutung, die den mystischen Erfahrungsraum leugnet, das zweite ist die
biblizistische. die alle Mythen der Bibel zu empirischen Wahrheiten erklärt.
Ob ein halluziniertes Erlebnis oder ein Traum mystische Bedeutung hat, zeigt sich
daran, welche Bedeutung es für den gewinnt, der es erfährt, wie auch für die,
denen es mitgeteilt wird. Wird ein Wahn daraus oder eine Ermutigung zur
Menschlichkeit? Die Offenbarung des Johannes wird man in dem zweiten Sinn
deuten dürfen. In dieser Zeit der extremen Verfolgung, der es darum ging,
die Christen auszurotten, ist ihre Botschaft vor allem seelsorgerlicher
Natur: Das Durchhalten wird sich lohnen. Gott lässt das schlimme Leiden
zu, aber er setzt ihm auch die Grenze. Die Macht der Liebe wird das Böse
überwinden.
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