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1./2. Sonntag nach dem Christfest
Leitmotiv: Aufbruch zur Menschlichkeit
Wochenspruch: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren,
wie du gesagt hast; denn meine Augen
haben deinen Heiland gesehen.“
Lukas 2,29f |
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Jesaja 49,13-16
Diese Mauern, die dem barmherzigen Gott alle Zeit vor Augen stehen, sind zerbrochene Mauern,
von denen nichts mehr übrig geblieben ist. Trümmerhaufen. Scherbenhaufen des Glücks. Darum
ist die Logik der Klagenden sehr plausibel: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat
meiner vergessen.“ Das tröstliche, erbarmende Eingreifen Gottes hat nicht stattgefunden
und wer das in Abrede stellen wollte, würde die Augen vor der bitteren Wirklichkeit
verschließen. Da gibt es überhaupt nichts zu jauchzen, zu loben und sich zu freuen.
Lebendiger Glaube ist die Zumutung, diese völlig überzeugende empirische Wirklichkeit
nur für eine Umpolung zu halten, wie in der Technik, wenn der Stecker aus der einen
Buchse gezogen und in die andere verlagert wird. Da können zwischenzeitlich kurz
die Lichter ausgehen. „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen“, sagt
derselbe Gott beim selben Jesaja, „aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich
sammeln“ (Jes 54,7). Das Problem ist, dass wir den „kleinen Augenblick“ nicht
als solchen wahrnehmen können, da unser ganzes Leben ja nur einen kleinen
Augenblick währt, wie auch die Zeit der ganzen Weltgeschichte aus dem Blickwinkel
der Ewigkeit auf einen Augenblick zusammenschrumpft. Was uns aber zugesagt ist
und woran der lebendige Glaube hängt wie ein Kletterer am Seil, das ist die
umgreifende Wirklichkeit des unveränderlich barmherzigen Wesens Gottes.
Ihretwegen ist aller noch so furchtbare Verlust und alles Sterben nur Umpolung.
Letztlich ist alles menschliche Leid, auch der Holocaust der Vernichtung Jerusalems zu
Jesajas Zeit und sogar die Genozide des 20. Jahrhunderts - also auch die allertiefste
kollektive Gottesfinsternis - der Zumutung dieses Prophetenwortes nach nichts als Umpolung.
Hier ist nichts mehr durch Relativierungen zurechtzuerklären, und dass all diese
unerklärbar entsetzlich Leidenden in die Hände des barmherzigen Gottes gezeichnet sind,
kann nur noch bedeuten, dass diese Hände selbst gezeichnet sind durch ihr Leid, durchbohrt
von jedem mörderischen Hieb, den je ein Mensch dem andern zufügte, gezeichnet durch
unsere Schuld.
Denn darin besteht ja nun, genauso logisch wie die Wirklichkeit der Gottverlassenheit,
unsere tatsächliche Schuld: Dass wir selbst Tag für Tag teilhaben am mörderischen Wesen,
durch Haltlosigkeit, Vorurteile, Selbstgerechtigkeit, Gleichgültigkeit und
Besserwisserei, und dass wir die dreisten Ausbreitungen des Bösen unter uns
Menschen zulassen. Auch die Schuld des Holocaust hat diese beiden Seiten,
und dadurch, dass beide vorhanden sind, verteilt sie sich nicht, um weniger
zu werden, sondern sie erweist sich nur erst recht als unermesslich: Der
Exzess der Täterschuld war nur möglich durch die Mittäterschaft aller, die
zusehend oder wegsehend der Eskalation des Bösen keine Grenze setzten - dem
Rad nicht in die Speichen fielen, mit Bonhoeffers Metapher gesprochen.
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